Le Devin du Village
REZENSION
Selbst im Kontext des so universal und enzyklopädisch ausgerichteten 18. Jahrhunderts mußte Jean-Jacques Rousseau als ein Tausendsassa gelten. Er arbeitete nicht nur auf dem Gebiet der generellen Erkenntnistheorie, Staatstheorie und Pädagogik, Ästhetik und Rechtsphilosophie, und war hierbei einer der wenigen Philosophen, die von Immanuel Kant anerkannt, ja, sogar bewundert wurden; Rousseau schrieb darüber hinaus auch eine bis heute absolut lesenswerte, immer noch bestürzend modern wirkende Autobiographie. Und schließlich wirkte er ohne, daß er jemals eine gründliche musikalische Ausbildung genossen hätte, als ein versierter Komponist.
Rousseau war – und das ist nur einer seiner tiefgreifenden musikgeschichtlichen Auftritte – wesentlich daran beteiligt, im Zuge des sogenannten „Bouffonistenstreits“ veraltete, als kompliziert empfundene Kompositionsstandards zurückzuweisen und zugunsten einer einfachen, als natürlich empfundenen Schreibweise zu fordern. „Zurück zur Natur“, dieser bis heute valente Slogan, wurde von Rousseau nicht nur wesentlich geprägt, sondern von ihm auch in musikpolitischer Absicht gegen die französische Musik gewandt. Sein Ideal der Einfachheit übernahm er aus der italienischen Musik, besonders aus der an der Singstimme orientierten Oper. Seine heute leider fast vergessene Oper Le devin du village („Der Dorfwahrsager“), ein einaktiges Intermedium von 1753, war als eine Art praktisches Referenzwerk gedacht – eine Demonstration dessen, wie die von Rousseau geforderte musikästhetische Utopie auch praktisch verwirklicht werden sollte.
Die Interpreten dieses Meisterwerkes, das eine lebendige Rezeption schon lange verdient hätte, müssen allerdings mit einem ästhetischen Problem fertig werden, das darin besteht, daß laut Rousseaus musikphilosophischer Prämisse auch das Schwierige naturhaft wirken muß. In dieser Hinsicht wird die vorliegende Gesamtaufnahme unter Andreas Reize dem heute vergessenen Opernphantom auf geradezu beglückende Weise gerecht. Die jungen Sänger, Gabriela Bürger als Colette, Michael Feyfar als Colin und Dominik Wörner als Wahrsager, agieren so, daß jede Wortäußerung fast unauffällig in Arioses umgegossen wird – der Kontrast zwischen wortdeutlichem Singen und musikalischem Sprechen fällt als solcher nicht ins Gewicht. Die Aufführung zeigt, daß alle Beteiligten eine wirkliche Vertrautheit mit dem Stück verbindet und daß sowohl Orchester wie auch Sänger das Stück sehr gut kennen und dadurch mögliche Krisenpunkte umgehen. Einige magische Passagen wie etwa die „Romance“ des Colin bereichern das Stück über jenes Maß einer bloßen musikgeschichtlichen Relevanz hinaus. Dieser Einakter ist schon rein aus ästhetischen Gründen als Repertoirestück empfehlenswert. Die rundum geglückte Aufnahme wird dazu hoffentlich ihren Beitrag leisten.
Michael B. Weiß, 31.12.2007 | Klassik heute